Sonntag, 19. April 2015

Der Fake Faktor - In der Falle der Aktualität

Donnerstag, 15. Februar 1996

Nach fast einem Monat schaltet sich sogar der damalige Bundespräsident Roman Herzog in die Debatte der aktuellen Ereignisse ein. Er betont zwar gegenüber dem Deutschen Presserat den Stellenwert der „gegenseitigen Kritik der Medien“ im Rahmen der freiwilligen Selbstkontrolle des Fernsehens, mahnt aber angesichts immer wilderer Spekulationen gleichzeitig zu Mäßigung. Unterdessen will es Jauch nicht gelingen, zur gewohnten Souveränität zurückzufinden, obwohl Entschuldigungen, Eingeständnisse und Beteuerungen, die Redaktion habe Borns Rohmaterial genau kontrolliert, sowie Gegendarstellungen beweisen sollen, dass stern TV Opfer und nicht Täter sei.

Ihn belasten anhaltende Spekulationen wie in der Woche, dass Born womöglich redaktionelle Hilfe bei der Produktion der Fakes, die er dem Publikum präsentierte, bekam:

"Wenn dann noch alles von einem Moderator schwiegermutterlieb ins Bild gesetzt wird - wer will wegen ein paar Lügen, den Spielverderber spielen? Das war schon bei den Hitler-Tagebüchern so, warum sollte ausgerechnet stern TV jetzt anders arbeiten? Damals kassierte Kujau noch illegal, heute streicht Jauch seine Millionen ganz legal ein."

Freitag, 16. Februar 1996

Auch dem Boulevardblatt Express aus Köln entgeht nicht, dass der Schock über die getürkten Beiträge beim Moderator Spuren hinterlassen hat:

"Peinlich, wie unvorbereitet er bei der Anmoderation des „Take That“-Themas war, ständig vom Zettel ablesen musste. Peinlich, wie er den (sorgfältig) recherchierten Beitrag über den Split der Teenie-Band mit Häme über die Fans („hysterische, kreischende Mädchen“) kaputt redete. Anschließend Gegendarstellungen in Sachen Born-Beiträge in schon gewohntem Jammer-Unterton. Wenn’s so weitergeht: Gute Nacht."

Man kann sich vorstellen, wie sehr Jauch und sein Magazin wenigstens eine kurze Atempause herbeisehnen. Aber auch an diesem Wochenende geht der Marathon weiter. Der Ikea-Konzern entschließt sich zu einer Klage auf Schadenersatz und informiert hierüber gleich die Presse.

Samstag, 17. Februar 1996

Der Schweden-Korrespondent der AFP tickert nach einem Gespräch mit einem Ikea-Verantwortlichen nach Deutschland, dass das Unternehmen von stern TV 400.000 Mark Schadenersatz fordere. Damit solle unter anderem der Schaden ausgeglichen werden, der der Firma in Indien durch den gefälschten Film entstanden sei.

Sonntag, 18. Februar 1996

Auch der Axel Springer Verlag lässt von der Story nicht ab. Die BamS hat seit dem letzten Wochenende weiter recherchiert. Durch ein Gespräch mit dem die Ermittlungen in Koblenz leitenden Staatsanwalt Norbert Weise erfahren die Redakteure von der Festnahme eines weiteren Verdächtigen:

"Nach Fernsehfälscher Michael Born sitzt jetzt auch Günther Jauchs „Hauptdarsteller“ in Untersuchungshaft. Laut Staatsanwaltschaft soll der Born-Komplize in einem gefälschten stern TV-Bericht als Ku-Klux-Klan-Führer Nazi-Parolen gegrölt haben. Als Komparse wurde er auch als angeblicher Kokain-Dealer und drogensüchtiger Navajo-Indianer auf dem Bildschirm entdeckt." 

Es ist völliger Unfug, dass der Festgenommene Jauchs Hauptdarsteller gewesen sei. Natürlich hätte Anwalt Seibert bei Springer intervenieren und auf Richtigstellung der nicht korrekten Behauptung bestehen können, ja müssen. Denn der Inhaftierte, den die BamS in dem Artikel auf einem Videoprint aus dem Beitrag in vollem Indianer-Federschmuck abbildet, ist einer der Komparsen Borns. Aber scheinbar kümmert es niemanden mehr, ob Behauptungen den Tatsachen entsprechen oder den Phantasien der Hamburger Springer-Redakteure. Irgendwie scheint hier wie zeitgleich im Rheinland Karnevalsstimmung auszubrechen.

Dienstag, 20. Februar 1996

Vom Norden der Republik im Hamburger Abendblatt oder in der Welt über die Mitte in der FAZ  bis in den Süden in der SZ oder den Osten in der Berliner Zeitung - während die Presse sich bundesweit mit den Neuigkeiten vom Wochenende überschlägt, rennen Jauch und seine Redaktion den Ereignissen hinterher.


 
 
 
In der Defensive - Magazin-Moderator und Chefredakteur scheinen den Ereignissen immer mehr hinterherzulaufen, werden zu Opfern der eigenen Aktualität.
 
 
 
 
Viel zu spät fällt die Entscheidung, zu der Ikea-Klage Stellung zu nehmen. Und dies nicht etwa in einem persönlichen Gespräch mit der SZ oder der FAZ, in dem sie den Redakteuren hätten wichtige Informationen zur Entstehung des Beitrages geben können, um so Einfluss auf die Berichterstattung zu gewinnen. Nein, einmal mehr in Form einer Presseerklärung.
 
"stern TV hat in der Sendung vom 14. Februar 1996 bereits zu der Fälschung des „Ikea-Beitrags“ Stellung genommen. Es handelt sich um ein schwebendes Verfahren, mit dem die Rechtsabteilung von Gruner + Jahr befasst ist. Sie befindet sich in Gesprächen mit den Anwälten von Ikea. Unsere Anwälte halten einen derartigen Schadenersatzanspruch, der im einzelnen von Ikea auch noch nicht spezifiziert worden ist, für unbegründet."
 
Eine Ansammlung von Allgemeinplätzen. Klar, dass das Magazin mit seiner wenig ausgeprägten Bereitschaft zur Auskunft bei den Kollegen der schreibenden Zunft nicht mehr punkten kann. In der Öffentlichkeit verhärtet sich der Eindruck, dass stern TV ganz offensichtlich blockt. 
 
Mittwoch, 21. Februar 1996
 
Das Medien-Karussell gewinnt an Fahrt: neuer Höhepunkt im Regenbogenblatt Sieben Tage. Es fordert erstmals im Namen der „empörten Zuschauer“ den Rücktritt des 39-jährigen Moderators.
 
Donnerstag, 22. Februar 1996
 
Mitten in die Situation platzt dann ein unerwartetes Umfrageergebnis. Ob nun gezielte PR-Maßnahme durch G+J oder nicht: Die zum Konzern gehörende Programmzeitschrift TV Today hat durch das Bielefelder Emnid-Institut die Stimmungslage im deutschen TV-Volk unter die Lupe genommen. Dabei sieht es so aus, als stimme die Rücktrittsforderung des Regenbogenblatts so gar nicht mit der Meinung der 1.036 befragten Zuschauer überein: 
 
"Auch wenn er sich stammelnd für gefälschte Fernsehbeiträge entschuldigen muss - er ist und bleibt der ewige Good Guy, dem jeder Fehler sofort verziehen wird. Die Zuschauer haben ihn so bedingungslos ins Herz geschlossen, dass selbst auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen über die gefälschten Beiträge bei „stern TV“ fast jeder zweite Deutsche den TV-Smartie gern noch öfter auf dem Bildschirm sehen möchte."
 
Es ist nicht dem Ergebnis dieser Umfrage zu verdanken, dass es anschließend um stern TV allmählich ruhiger wird. Vielmehr geht den Tageszeitungen nach über einem Monat Sperrfeuer langsam die Munition aus. Außerdem wissen die Chefredakteure: Wirkliche Klarheit in den Skandal wird erst die Anklage beziehungsweise der Prozess gegen Michael Born bringen.
 
Sonntag, 3. März 1996
 
Einige Tage später zieht die Welt am Sonntag eine für das Magazin beruhigende Zwischenbilanz. Grund: Weder Fakes noch Diskussionen führten zu einem Popularitätsverlust. Die Einschaltquoten bleiben bei über drei Millionen Zuschauern auf hohem Niveau:
 
"Es überrascht, dass das Fernsehpublikum so wenig Konsequenzen aus dem Ereignis zog“, sagte Klaus Burkert von der für „stern TV“ zuständigen Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen. „Leider liegen keine Untersuchungen vor, was der Zuschauer überhaupt von Magazinsendungen erwartet“, so Burkert weiter. „Offenbar besteht hier eher ein Hang zur Unterhaltung denn zur Information.“
 
Mit dem beginnenden Frühjahr nähert sich die erste Phase des Skandals ihrem Ende. Zurück bleibt ein blamierter Moderator mit einem Magazin, das auf dem besten Weg ist, seine journalistische Kredibilität zu verspielen. Und eine Branche, die sich selbst den § 23 Abs. 3 des Rundfunkstaatsvertrags ins Bewusstsein zurückrufen muss. Darin heißt es, dass Informationssendungen den anerkannten journalistischen Grundsätzen zu entsprechen haben, „unabhängig und sachlich“ sein müssen und dass Nachrichten vor ihrer Verbreitung „mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf Wahrheit und Herkunft“ zu prüfen seien.
 
Ganz in diesem Sinne fordert der damalige Vorsitzende der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten (DLM), Thomas Kleist, die betroffenen TV-Veranstalter auf, gegenüber der zuständigen Landesmedienanstalt Auskunft darüber zu geben, ob und in welcher Anzahl, in welcher Art und welchem Umfang gefälschte Beiträge ausgestrahlt worden sind und welche Vorkehrungen getroffen wurden, um den im Rundfunkstaatsvertrag vorgeschriebenen Sorgfaltspflichten zu entsprechen.
 
Über Ergebnisse und mögliche Konsequenzen daraus soll die Öffentlichkeit allerdings nichts mehr erfahren. Mit jedem Tag ebbt nun die breite Woge der Berichterstattung bis zur Anklageerhebung gegen Born im Sommer weiter ab. Diskussionen um Schwachstellen in puncto redaktionelle Sicherungssysteme oder journalistische Sorgfaltspflicht werden fortan im Evangelischen Pressedienst (EPD) und in Medien-Fachblättern wie der Funk-Korrespondenz oder Medien aktuell geführt. 

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen